In meinem Wald tritt sie massenhaft auf, diese kleine, eigentlich sogar schön anzuschauende, filigrane Ranke, das Waldgeißblatt. Bereits Ende Januar, wenn alle andere noch in Winterstarre verharrt, wird sie aktiv und wächst – und sie wächst schnell.
Und wenn du um diese Zeit im Gebüsch etwas grünes entdeckst, kann es nur sie sein, denn sie braucht einen Vorsprung vor den anderen.
Zunächst ist sie nur wenige Millimeter dick und sie rankt immer rechtswindend an jungen
Bäumen hoch. Dass sie zum Licht will liegt in ihrer Natur, aber warum ist sie so gemein und bringt ihren Wirt um. Ohne etwas davon zu haben?
Es reicht ihr nicht, an den kleinen blattlosen Stämmchen empor zu ranken. Nein, wenn man sie lässt überwuchert sie das ganze kleine Bäumchen und zieht es gnadenlos zu Boden. Sie ist es auch, die an jungen Bäumen durch ihre Einschnürungen diese typischen
rustikalen Handstöcke „produziert“, die wegen ihrer gedrechselten Form gelegentlich von Sammlern gesucht werden.
Dieses Waldgeißblatt wächst, wenn man es nicht bekämpft, zu einem undruchdringlichen Gewirr zusammen und die Ranke kann Daumendicke erreichen.
Bei diesem Gewächs schwanke ich zwischen Pflanzenliebe und ihrer Bekämpfung zum Schutz junger Bäume. Irgendwie mag ich sie nicht. Sie traut sich nur an junge Bäume von max. 3 cm Durchmesser heran und bringt sie gnadenlos um. An stärkere Bäume traut sie sich nicht, da schafft sie die Windungen nicht. Ich habe sie deswegen die „Killerranke“ genannt.
Ich habe mir ihr eine Abmachung getroffen. Ich vernichte sie rücksichtslos, wenn sie meine jungen Bäume angreift und sie weiß das genau. Gleichzeitig ist sie sicher, dass sie langfristig stärker ist als ich. Mich auszurotten, dass schaffst du nie, hat sie mir eines Tages gesagt. Und irgendwie bewundere ich sogar ihre Vitalität, ihre Cleverness und ihre Selbstbehauptung. Es ist so etwas wie gegenseitiger Respekt, gepaart mit ein wenig Hass
und etwas Liebe.
Sie ist nicht nur aggressiv – sie ist auch bewundernswert.
Sie schafft es auf wundersame Weise ein einzelnes kleines Bäumchen in ihrer Nähe zu
„finden“, auch dann wenn weit und breit nichts anderes steht. Sie rankt mit tödlicher Sicherheit in die richtige Richtung, als ob sie das Bäumchen sehen oder riechen könnte.
Das fasziniert mich so sehr, dass ich bald ein kleines Experiment starten werde, wie sie das schafft. Über die Versuchsanordnung denke ich noch ein wenig nach. Vielleicht platziere ich rechts von ihr einen toten Stab und links von ihr einen lebenden Baum und prüfe das Ergebnis. Denkbar wäre auch, ihr die Sicht oder die Geruchsaufnahme zu nehmen.
Da fällt mir noch was ein.
Februar 2012