„Warum sind Sie von meinen Fotos schockiert?“
Eigentlich sollten Sie meine Bilder nicht sehen.
Niemand sollte das. Normalerweise bleiben solche
Bilder ungedruckt. Ich selber kann mich bei vielen Fotos
kaum erinnern, sie gemacht zu haben – als hätte jemand
die Löschtaste in meinem Kopf gedrückt. Du wachst morgens
auf und kannst dich an den Albtraum nicht erinnern.
Aber du weißt, er war da. Ich war da. Ich bin der, der alles
fotografiert hat. Ich weiß es.
Dies sind nicht meine besten Fotos. Ich habe wunderschöne,
dramatische, wohlkomponierte Bilder von Kriegen und Kata-
strophen. Landschaften, Porträts, Details, das ganze boom und
bang. Aber hier geht es nicht um das Drama des Krieges, auch
nicht um den Mythos des Kriegsfotografen,
sondern um unseren Umgang mit den Bildern
grauenhafter Ereignisse. Wir alle üben Selbstzensur.
Ich tue es. Die Bildredakteure tun es. Ihr üblicher
Refrain lautet: “Leider geht das zu weit, um es zu drucken.“
Und Sie, die Betrachter zensieren auch. Sie fürchten,
hinschauen könnte voyeuristisch sein. Sie fürchten sich
vor der eigenen Furcht. Sie verwechseln Pietät mit
Nichtwissenwollen. Mein Großvater, der als überzeugter
Nazi an der Ostfront gedient hatte, beschloss, zu vergessen.
Seine Kriegsgeschichten waren abenteuerlich, glamourös,
heroisch – und handelten alle von seinem Pferd. Wir er-
innern uns in Bildern. Wenn wir uns verbieten, Bilder
anzusehen, wie sollen wir das Geschehene im Gedächtnis
speichern? Woran wir uns nicht erinnern, das hat nicht
stattgefunden. Ich bin ein höflicher Mensch. Aber wenn
ich höre, dass jemand meine Bilder nicht ansehen kann,
werde ich wütend. Ich sage zwar: „Oh, kein Problem, ich verstehe.“
Aber das ist eine Lüge. Tief im Innern schreie ich aus voller Lunge:
„Du kannst nicht hinschauen? Dann streng Dich an, Du verweichlichte
Erste-Welt-Heulsuse. Wach auf! Das hier sind echte Menschen! Wenn
Dir das auf den Magen schlägt, scher Dich verdammt noch mal
runter von diesem Planeten!“
Aber wie gesagt, ich bin höflich. Und ich weiß, man braucht Mut,
das Schreckliche zu betrachten. Aber ist Ihnen eigentlich klar, w i e
schrecklich es ist? Ja? Warum sind Sie dann von meinen Fotos
schockiert? Was Sie hier sehen, ist meine persönliche Erfahrung.
Aber Ihre auch, es geschieht in Ihrer Lebenszeit, Sie entscheiden,
ob Sie es ignorieren.
Ich habe erlebt, wie ein stark verbrannter Mann, den ich 2005 in
einer Unfallaufnahme fotografierte, mehrmals ohnmächtig wurde
vor Schmerzen. Die Brandopferstation des Krankenhauses war wegen
Korruption geschlossen worden. Nun wartete der Verletze auf einen
Transport in ein anderes Hospital, aber der Arzt sagte, weil die Wunden
so furchtbar und alle anderen Stationen überfüllt seien, werde der Mann
wohl sterben. Auf dem Foto schaut er uns an. Es ist mir nicht leichtgefallen,
die Kamera auf ihn zu richten. Und Sie? Schauen Sie ihm in die Augen?
Fast alle meine Kollegen, die in Krisengebieten arbeiten haben Massen
solcher Bilder. Sie liegen auf unseren Festplatten, ungedruckt. Dabei
sind auch das nur Ausschnitte der Realität, unvollständige Moment-
aufnahmen des wahren Chaos.
Es wäre leicht „den Medien“ die Schuld zu geben. Aber ich selbst bin
ein Teil der Medienmaschine. Und Sie als Publikum sind es auch.
Ja. Gewaltbilder können uns schockieren, enthemmen und
verrohen, genau wie Pornografie. Schon tausendmal wurde
über diesen Aspekt der Kriegsfotografie geschrieben, die
Ästhetisierung der Gewalt, den Voyeurismus und die düstere
Anziehungskraft fremden Leids. Doch ich überlasse die klugen
Debatten anderen. Ich bin Fotograf und empfinde es als meine
Pflicht, das Geschehe zu veröffentlichen. Wenn mir das nicht
gelingt, Wenn Sie wollen, nennen Sie sie Kriegspornografie.
Ich kann den Horror aus den Horrorbildern nicht eliminieren.
Genau wie ich das Subjekt-Objekt-Dilemma nicht auflösen kann.
Natürlich beuten Fotografen aus, was Sie fotografieren.
Natürlich ist das war-porn. Aber solche Einwände sind auch
wunderbare Ausreden, um wegzuschauen.
Übrigens, meine Bilder sind real, nicht fiktiv, wie die super-
gewalttätigen Kinofilme, Fernsehserien und Videospiele, die
wir bedenkenlos anschauen. Ich dokumentiere und interpretiere
reale Ereignisse. Wie kann diese Arbeit bedeutungslos oder nichts-
sagend sein? Wie können wir uns weigern, das bloße Abbild eines
Schreckens zur Kenntnis zu nehmen, den andere Menschen gezwungen
sind, am eigenen Leib zu erleben.
Im letzten Jahr habe ich die Bilder, die von den Redaktionen immer
aussortiert wurden, selber als Buch veröffentlicht. Viele Medien haben
darüber berichtet. Nur einige haben Fotos gedruckt. Letztlich ist das
kleine Buch meine Versicherungspolice für den Tag, an dem meine
Enkel alt genug sind, um zu fragen, was Kriege und Katastrophen sind.
Ich werde dann nicht über Pferde erzählen sondern die Bilder aus dem
Regal ziehen und sagen: „So war es für mich. Daran erinnere ich mich.
Schaut es Euch an.“
Zitiert mit freundlicher Erlaubnis des deutschen Kriegsfotografen Christoph Bangert.
Überarbeitetes Vorwort zu seinem Bildband „War Porn“ Kehrer-Verlag.
Text und Foto: Christoph Bangert
zum Foto: Außerhalb der Notfallstation des
Krankenhauses weint der Onkel eines jungen
Mädchens mit Namen Sahra. Sie starb
während einer Massenpanik auf der Brücke
zwischen Adamiyra und Kadamiyra.
Ihr Vater ist nicht da und sucht die Mutter,
die vermisst wird. Die Panik erfasste Tausende
von Schiiten , die in einer religiösen Prozession
über die Brücke pilgerten nachdem es Gerüchte
gegeben hatte, dass ein Selbstmordattentäter
unter ihnen sei.
Dadurch wurde eine panische Flucht ausgelöst,
bei mehr als 600 Menschen zu Tode getrampelt wurden.